EKOL - Einrichtung Kultureller Bildung im Kulturraum Oberlausitz-Niederschlesien

Broschüre „Aufbruch ’89“ in der Oberlausitz

„Aufbruch ’89“ in der Oberlausitz – Erste große Veranstaltung des Neuen Forum am 19.10.1989 in drei Zittauer Kirchen
– Eine Zusammentragung von Andreas Schönfelder und Julia Böske –

Diese Broschüre erinnert an den 19. Oktober 1989, den Tag, an dem 10.000 Oberlausitzer in den drei Zittauer Kirchen – St. Johannis, St. Petri und Paul und Mariä Heimsuchung – dem Aufruf „Aufbruch ’89 – Neues Forum“ folgten und damit den Aufbruch in der Oberlausitz hin zu Freiheit und Demokratie wagten.

(Titelbild) Festveranstaltung zum 30. Jubiläum des 19.10.1989 mit der Enthüllung des Denkmals Stern der Freiheit; Personen im Vordergrund v.l.n.r. Michael Herbig, Prof. Peter Dierich, Oberbürgermeister Thomas Zenker, Klaus Zimmermann, Andreas Schönfelder, Thomas Pilz © Rafael Sampedro

Vorwort
Andreas Schönfelder

Wenn ich mich mit zunehmenden Jahren reflektierend erinnere an diesen denkwürdigen 19. Oktober 1989, dann immer weniger intensiv an die unmittelbare Geschichte, an diejenigen, die ihn aktiv vorbereiteten und durchführten. Sie werden natürlich in dieser Publikation gewürdigt und kommen auch zu Wort – wie sollte es anders sein. Darüber hinaus erinnere ich immer eindringlicher den Schein der Kerzen und die würdevolle, gespannte Stille der Vielen. Eine Stille, die nur sie selbst mit ihrem Beifall durchbrachen. In Momenten, wo sie die vorhandene kollektive Furcht endlich schwinden sahen und stattdessen ein befreiendes Gefühl aufkam, war der Applaus besonders ergreifend. Hier hatten die Redner nicht nur einfach den allgemeinen Nerv getroffen, sondern Worte und Sinnzusammenhänge gewählt, die in der Öffentlichkeit zu lange nicht mehr gehört worden waren. Es ging hier um die unverstellte DDR-Wirklichkeit und die dringliche Artikulation von Reformnotwendigkeiten in einem anstehenden gesellschaftlichen Prozess hin zu Freiheit und Demokratie.

Diese 10.000 Menschen, verteilt auf drei Veranstaltungen, schienen beseelt von Gottes Gnade und so getragen von seinem Beistand. Nicht von ungefähr war es zu Beginn der Friedlichen Revolution nur in den Kirchen seiner Gemeinden möglich, sich zu versammeln. Deshalb schienen alle schließlich auch sinnbildlich offen dafür, auch diejenigen mit hineinzunehmen in die Versammlungen, die während der langen Zeit der Diktatur auf so verschiedene Art und Weise aus ihren Leben gerissen worden waren: ermordet, vertrieben, gedemütigt oder verstummt.
Es ist bis heute von den Menschen des 19. Oktober 1989 nicht ein einziges Foto aufgetaucht, weder in Archiven noch infolge öffentlichen Nachfragens. Wir „kennen“, außer den Redebeiträgen und Rednern (einige sind inzwischen nicht mehr unter uns, fast alle vergessen), nur die beschriebene akustische Atmosphäre einer der drei Veranstaltungen. Und dies auch nur aufgrund eines vorausschauend hergestellten Mitschnitts der Veranstaltung. Und wir kennen natürlich den Raum, den inzwischen denkmalgerecht renovierten: Die Kirchsäle von St. Johannis, St. Petri und Paul und St. Mariä Heimsuchung waren sicher sehr lange vorher und wohl auch seitdem nicht mehr so gefüllt.

Da waren und sind sie – die „Namenlosen“ in der Geschichte –, zur richtigen Zeit am richtigen Ort und noch dazu wegen der richtigen Sache. Nach einer nur sehr kurzen Zeit waren sie wieder unsichtbar, die allermeisten bis heute.
Seit diesem und anderen Ereignissen der Friedlichen Revolution hören wir ab und an, mindestens zu den runden Erinnerungstagen, dass die Menschen, die an solchen Veranstaltungen teilnahmen, noch einiges riskiert haben, auch noch nach der denkwürdigen Montagsdemonstration vom 9. Oktober 1989. Ja, das stimmt, und so soll es nun um das Warum gehen.

Wir wissen vieles aus den überlieferten „Operativen Vorgängen“ (OV) der Staatssicherheit oder den sogenannten OPK, den „Operativen Personenkontrollen“. Bei den OV handelte es sich um geheime, konspirative Überwachungs- und Zersetzungsmaßnahmen gegenüber Personen oder Personengruppen, bei denen es sich in Wirklichkeit um schwebende politische Strafprozessverfahren handelte, welche die SED statt der Justiz der Staatssicherheit „anvertraute“. Den Inoffiziellen Mitarbeitern (IM) kam dabei die Aufgabe zu, die Straftatbestände permanent zu aktualisieren, um jederzeit einen Zugriff zu ermöglichen.
Weniger bekannt ist die sogenannte „Direktive 1/67“, deren Ausarbeitung für einen „Tag X“ die SED dem Mielke-Ministerium auftrug: Fast 86.000 Bürger der ehemaligen DDR, „die in der Vergangenheit negativ aufgefallen sind“ waren „im Spannungsfall oder Verteidigungszustand zur Festnahme, Isolierung bzw. verstärkten operativen Kontrolle und Überwachung vorgesehen.“ (a) Im Rahmen dieses sogenannten „Vorbeugekomplexes“ sollte das gesamte Land mit einem Netz aus Isolierungslagern überzogen werden.

Am 22. Oktober gab SED-Chef Erich Honecker in einem Fernschreiben allen Ersten Sekretären der SED-Bezirksleitung in einem Schreiben grünes Licht für die Umsetzung:
„In der letzten Zeit haben auf verschiedenen Ebenen Aktivitäten unserer Feinde stattgefunden, die darauf gerichtet sind, entsprechend der bundesdeutschen Propaganda konterrevolutionäre Gruppen zu organisieren. Diese Fragen haben wir auf der letzten Beratung mit den 1. Sekretären der Bezirksleitungen besprochen. Es bestand Übereinstimmung, daß diese feindlichen Aktionen im Keime erstickt werden müssen, daß keine Massenbasis dafür zugelassen wird. Da in einigen Kreisen nicht rechtzeitig die politisch-organisatorischen Maßnahmen getroffen wurden, ist es erforderlich, die bisher geleistete Arbeit zu überprüfen. Das betrifft die politisch-ideologische Arbeit und gleichzeitig ist dafür Sorge zu tragen, daß die Organisatoren der konterrevolutionären Tätigkeit isoliert werden.“ (b)

Die ersten Sekretäre der SED-Bezirksleitung gaben diesen Befehl unverzüglich an die ersten Sekretäre der Kreisleitungen weiter. So ordnete beispielsweise der Vorsitzende der Bezirkseinsatzleitung Dresden, der „Reformer“ Hans Modrow, noch am selben Tag an:

„Die Partei- und Staatsführung hat zur gegebenen Lage Stellung genommen und fordert die konsequente Isolierung aller konterrevolutionären Kräfte […]. Die Leiter der Kreisdienststellen des MfS sind beauftragt, Euch in diesem Sinne weitere Informationen zu übermitteln, die in die politische Führung entsprechend einzubeziehen sind.“ (c)

In den Akten der Staatssicherheit tauchten schon über die 80er Jahre hin immer wieder die Worte „Liquidierung“ und „Vernichtung“ auf. Diesen Worten muss man in diesem Zusammenhang durchaus die ernsteste Bedeutung beimessen. Auch in Anbetracht dessen, dass man jeweils „familienweise“ abgeholt hätte. Allerdings gab es zunehmend Hemmungen bei der Umsetzung, zum einen wegen des nicht abgesicherten Beistandes der Roten Armee und Michail Gorbatschows, und nicht zuletzt angesichts der Großdemonstration am 9. Oktober 1989 mit 70.000 Demonstranten in Leipzig.

Noch bis in den Herbst 1989 hinein wurden die aus Anlass der „Direktive 1/67“ angelegten Personenkarteien ständig aktualisiert. Erst am 27.11.1989 wurden die Pläne für einen „Tag X“ endgültig aufgegeben.

Der ehemalige DDR-Bürgerrechtler und Historiker Thomas Auerbach schreibt in seiner bemerkenswerten Studie „Vorbereitung auf den Tag X. Die geplanten Isolierungslager des MfS“:

„Am Ende der jahrzehntelangen Planungen standen der Befehl des jetzt als ‚Amt für Nationale Sicherheit‘ firmierenden Staatssicherheitsdienstes über die Vernichtung sämtlicher Unterlagen zu Kennziffer 4.1. des Vorbeugekomplexes vom 27. November (…) und der zwei Tage später erlassene Befehl Nr. 16/89 des Nationalen Verteidigungsrates, in dem Egon Krenz mit Wirkung vom 30. November 1989 die Einstellung der Tätigkeit der Bezirks- und Kreiseinsatzleitungen anordnete (…).“ (d) Bislang sei angenommen, worden, dass Krenz schon am 24. Oktober sämtliche Befehle Honeckers aufgehoben hätte, was allerdings erst am 1. und 3. November 1989 formell geschah: „Er war allerdings schon in seiner Anordnung vom 24. Oktober von der Einsicht ausgegangen, dass ‚alle Probleme mit politischen Mitteln‘ zu lösen seien. Es gelte, die gesamte Partei in die Offensive zu führen.“ (e)

„Zu der Frage, inwieweit die Bezirkseinsatzleitung – so jedenfalls die jüngsten Presseberichte – sogar Liquidierungspläne durchspielten, wurde bei den Aussagen vor dem Ausschuß jegliche Andeutung vermieden. Die Einlassungen beschränkten sich auf eine Verharmlosung der Begriffsbestimmung des Wortes Liquidierung als ‚Unschädlichmachung im politischen Sinne‘. Dieser Begriff kann aber schon im Hinblick auf die bereits durch die Maßnahmen der Festnahme und Isolierung eingenommenen Bereiche eindeutig nur als physische Vernichtung verstanden werden.“ (f)

Dieser kleine Exkurs richtet sich gegen Erinnerungslücken – nicht nur, aber auch wegen der überwiegend milden Sicht auf das SED-Regime, die sich seit längerer Zeit ungehemmt breit macht.

Mit dieser Publikation, und das sei hier ausdrücklich erwähnt, verbindet sich auch weiterhin der dringende Wunsch der Oberlausitzer, die noch ausstehende Monografie zur Geschichte und Vorgeschichte der Friedlichen Revolution in der Oberlausitz auf den Weg zu bringen. Dies wäre ein nicht gering zu schätzender Schlussstein zur Gesamtgeschichte der Friedlichen Revolution, in Sachsen und in der DDR, zumal Sachsen sich in den letzten Jahren selbst als Kernland der Friedlichen Revolution stilisiert hat. Dies kann nicht ausschließlich als touristische Landmarke gemeint sein, sondern muss auch mit wissenschaftlich-historischen Befunden untersetzt werden, damit auch diejenigen, die Demokratie und Freiheit in der Zukunft gestalten sollen, etwas an die Hand bekommen, was von der dazugehörigen Zivilcourage kündigt und davon, dass diese freiheitlichen und demokratischen Werte und ihre Träger sich immer bewusst sein müssen, dass es sich dabei nicht um Selbstverständlichkeiten handelt. Diese wissenschaftliche Arbeit ist nicht zuletzt notwendig, um an der sogenannten historischen Wahrheit entlang auch im schulischen und außerschulischen Bildungsbereich Vermittlungssicherheit zu erlangen.

Noch unlängst haben sich alle Oberbürgermeister der großen Oberlausitzer Städte und vieler kleinerer Kommunen diesem Ziel schriftlich verpflichtet gezeigt. Insofern ist diese Publikation nicht nur als erster Versuch zu werten, diesem Ereignis in einem zunächst kleinen Rahmen gerecht zu werden, sondern sie ist auch als erneuerter Aufruf und als Bekräftigung dieser Aufgabe zu sehen. Es sollte damit nicht mehr lange damit gezögert werden.

Wir sind es all jenen schuldig, die Freiheit und Demokratie auf eine beispielhaft freundliche Art und Weise erkämpft haben, indem sie unnachgiebig, selbstlos und entschlossen handelten. Dieser Herbst von 1989 gehört ins Fundament unserer Zukunftspläne.


Anmerkungen:

a) Thomas Auerbach: Vorbereitung auf den Tag X. Die geplanten Isolierungslager des MfS. In: Reihe B – Analysen und Berichte Nr 1/95. Hrsg.: Der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR, Abt. Bildung und Forschung, Berlin 1995/2000.
b) Fernschreiben Honeckers (GVS 2/89) an die 1. Sekretäre der Bezirksleitungen der SED vom 22.09.1989; BStU, ZA, DSt 103600, 1 S. (MfS-Zählung).
c) Fernschreiben Modrows an die 1. Sekretäre der Kreisleitungen der SED im Bezirk Dresden vom 22.09.1989. Zitiert nach: Schlussbericht des Sonderausschusses des Sächsischen Landtags zur Untersuchung von Amts- und Machtmissbrauch infolge der SED-Herrschaft vom 20.5.1994; Drucksache 1/4773, S. 41.
d) Auerbach, a.a.O., S. 131
e) Ebenda
f) Schlussbericht des Sonderausschusses zur Untersuchung von Amts- und Machtmissbrauch infolge der SED-Herrschaft vom 20.05.1994: Drucksache 1/4773, S. 36.


Förderer: Freistaat Sachsen / Förderprogramm „Revolution und Demokratie“

     

 

Herausgeber: Stadt Zittau, Umweltbibliothek Großhennersdorf e. V.
Beratung: Thomas Pilz
Layout, Satz, Druck: Winterdruck
Herrnhut, 2020

Titelbild: Festveranstaltung zum 30. Jubiläum des 19.10.1989 mit der Enthüllung des Denkmals Stern der Freiheit; Personen im Vordergrund v.l.n.r. Michael Herbig, Prof. Peter Dierich, Oberbürgermeister Thomas Zenker, Klaus Zimmermann, Andreas Schönfelder, Thomas Pilz © Rafael Sampedro